Geschichte mit Geschichte
Mit dem Motorrad nach Drüben
Als im November 1989 plötzlich die Mauer fiel, waren mein Kumpel Carsten und ich motorradfahrende Studenten in Friedberg/Hessen. Die ersten zwei Wochen beobachteten wir, wie nach anfänglichem Durcheinander immer mehr Reiseverkehr zwischen Hessen und Thüringen aufkam. Die Situation war aber immer noch nicht klar, wie mit Motorrädern umgegangen werden sollte. Ende November fassten wir uns an einem warmen Herbsttag ein Herz. Mit der offiziellen Begründung, im Osten Fachbücher kaufen zu wollen, die wir fürs Studium bräuchten, setzten wir uns auf unsere Maschinen und fuhren über Schlüchtern nach Fladungen. Ich auf meiner CX 500 mit Pichler-Vollverkleidung und Carsten auf seiner 750er Katana. An der Grenze angekommen, fanden wir einen provisorischen Übergang bei Melpers, wo im Minenstreifen einfach ein paar Betonplatten verlegt waren und an einem transportablen Wachhäuschen 2 DDR-Grenzsoldaten darauf achteten, dass wir Wessies auch immer noch schön unseren Zwangsumtausch durchführten. Als wir mit den Motorrädern auftauchten, blickten wir in verwunderte Gesichter. Offizielle Regelung für den Grenzübertritt mit Motorrädern? Wir hatten keine Ahnung. Die Grenzer auch nicht. Kurzes Palaver und die Fragen, was der Grund unserer Reise sei und wie lange wir in der DDR bleiben wollten. Wahrheitsgemäß kamen unsere Antworten: Nur eine Tagesreise nach Erfurt zum Bücher kaufen und wieder nach Hause. Also haben wir jeder 25 Mark West gegen Mark Ost getauscht und sind dann einfach durchgefahren. Auf den ersten Kilometern hatten wir das Gefühl, einen anderen Kosmos zu befahren. Jedes Auto sah anders aus, als wir es gewohnt waren. Die Straßen gepflastert und die engen Baumalleen gaben ein anderes Fahrgefühl. Gehwege mit Bordsteinkanten gab es nicht. Die Dorfstraße holperte zwischen den Gärten durch, nur abgegrenzt von einfachen Holzzäunen, zwischen denen und dem Straßenbelag ein schmaler Sandstreifen von Fußgängerverkehr ahnen ließ. Carsten fuhr voraus, die Katana mit der brüllenden 4in1-Anlage zwischen den Schlaglöchern durchmanövrierend. Und weil der Auspuff ohne Innenleben so einen Höllenkrach machte, hielt ich ein paar Meter Abstand. Zuerst konzentrierte ich mich auch auf die Straße und die buckelig gepflasterte Fahrbahn. Nachdem ich mehr und mehr Vertrauen in die weich eingestellten Konis fasste, sah ich mich um und nahm die Umgebung auf. 2 Frauen mit großen Kinderwagen standen am Straßenrand. 4 Kinder in jedem Wagen und während ich in meiner westlichen Unbekümmertheit nachdachte, ob hier Mehrlingsgeburten ein Normalfall sind, stellte ich fest, dass die Damen erschrocken hinter Carsten hersahen. Die nächsten Leute an der Straße sprangen ebenfalls zurück, als Carsten an der Kreuzung einen Gang runter schaltete und Gas gab. Neue Erfahrungen. Nicht nur wir waren auf dem Mars. Die Einheimischen betrachteten uns auch als die Außerirdischen. Während Carsten mit seinem brettharten Fahrwerk kämpfte, fuhr meine Sänfte gemütlich hinterher und beobachtete die Menschen am Straßenrand. Nicht lange, denn zwischen Meiningen und Zella Mehlis mußte Carsten auf Reserve umschalten. Über Tankstellen hatten wir uns bisher keine Gedanken gemacht. Jetzt standen wir am Ortseingang von Schwarza und diskutierten darüber, dass wir seit dem Grenzübergang noch keine Tanke wahrgenommen hatten. Ratlosigkeit. In Schwarza stand dann eine einzelne Tanksäule an der Straße. Dahinter ein Bauernhaus und ein offenes Scheunentor. In der Scheune wurde gearbeitet. Also angehalten und mal nachgefragt. Während wir in der Scheune mit einem Mechaniker diskutierten, der bei unserem Eintritt unter einem Traktor hervor gekrochen war, sammelten sich draußen um unsere Moppeds die ersten Arbeiter. Wir fragten, wegen dem Sprit und ob man uns weiter helfen könnte. Antwort: „Nu joo, Zweedagtööl ist een Brobleem.“ An der Säule draußen war nur Diesel für die Schlepper zu tanken, man hätte aber Normalbenzin in Kanistern, aber nur für 4-Takter und nicht für Motorräder. Unverständige Antwort von uns, dass die Moppeds doch 4-Takter sind und wir ganz normales Benzin ohne Öl bräuchten. Gelächter von draußen. Inzwischen standen gut 8-10 Mann um die Maschinen und einer fragte nach der Motorleistung. Ich zeigte auf die CX und leierte runter: 2 Zylinder V-Motor, 500 Kubik und 50 PS. Wieder Gelächter. „50PS für ein Motorrad, die spinnen, die Wessis!“ Einer kniete vor der Güllepumpe und sah unter der Gabel in die Verkleidung. „Was ist dass denn, ein Wasserkühler?“ „Jau, der Motor ist wassergekühlt.“ Wieder kollektives Gelächter. Neben der CX mit der Vollverkleidung und großen Krauser-Koffern inklusive Topcase stand die Katana geduckt auf dem Seitenständer. Einer drehte sich jetzt zu ihr um grinste breit und meinte „dat wird ja immer besser, die Kleene da hat sogar 4 Zylinder. „Jau, aber dafür keine Wasserkühlung“ kam die verschnupfte Antwort von Carsten. Klein wollte er gegenüber der Güllepumpe doch gar nicht hören. “Und wat hatt die Kleene so an Leistung?“ „82 PS.“ Jetzt war Carsten wieder oben auf. Ungläubige Gesichter und dann wieder „Die spinnen die Wessis“ Ich hatte inzwischen bei dem Werkstattmeister 20 Liter Sprit aus Kanister gekauft und während wir ohne Tankrüssel mit möglichst wenig Geklecker den Saft in die Fässer füllten, wurde Carsten wegen der Bemerkungen über seine „Kleene“ immer stinkiger. Schließlich war die Katana Bj.82 sein ganzer Stolz. Nach dem Tanken stieg er Wortlos auf, stülpte den Helm über und ließ den Motor im Stand grummeln während ich mich reisefertig machte. Als ich den Daumen hob krachte bei der Kanata der erste Gang rein. Carsten rollte auf die Straße und schwenke Richtung Zella-Melis. Ich stand noch zwischen den Traktoristen, da riss Carsten das Kabel auf und die Katana brüllte mit durchdrehendem Hinterrad Richtung Ebertshausen. Erstaunte Gesichter und ich mußte mit der Hupe den Weg frei machen, damit ich auch auf die Straße konnte. Lachend rief ich im Vorbeifahren noch “Wir spinnen, wir Wessis“, dann bog ich auch nach links und fuhr Carsten hinterher. Bei unserer Pause in Oberhof haben wir beide dann köstlich gelacht, als ich Carsten von den verblüfften Gesichtern erzählte. Unsere Bücher haben wir nachmittags in Erfurt gekauft. Nachdem ca. 10kg Papier in jedem Koffer verstaut waren, sind wir noch hinter dem Dom eine echte Thüringer Grillwurst essen gegangen und dann auf die Transitautobahn Richtung Eisenach.
Heute, 20 Jahre nach der Fahrt, treffen wir uns ab und zu immer noch. Um alte Zeiten hochleben zu lassen, eine Runde Benzin zu quatschen oder einfach nur über spinnende Wessis zu lachen.