
kaibag65
Themenstarter
In diesen Tagen feiert eine der legendärstenStraßen seinen Geburtstag...die
Route 66 vielen auch als die Mutter aller Straßen bekannt.
Kicks und Kitsch auf der Route 66
Amerikas Hauptstraße ist 90 Jahre alt geworden, Angel Delgadillo lebt genauso lange dort – und engagiert sich für deren Erhalt.

"Ich habe die Völkerwanderung gesehen, die John Steinbeck in ,Früchte des Zorns’ beschreibt", sagt Angel Delgadillo und lächelt durch sein zerfurchtes Gesicht. "Eine Viertelmillion Menschen kamen über die Straße vor unserem Haus. Dann die Soldaten nach dem Krieg – alle durch dieses Dorf." Die 500-Seelengemeinde Seligman liegt im staubigen Nirgendwo des US-Bundesstaats Arizona, der 89-Jährige hat sie in seinem Leben nur zweimal verlassen. Dennoch ist Delgadillo ein Geschichtsbuch auf Beinen. "Ich wurde an der alten Route 66 geboren", sagt er und blickt auf den Asphalt vor dem Fenster seines Geschäfts. Die legendäre Mother Road ist nur wenige Monate älter als er, sie wurde im November vor 90 Jahren begründet. Dass es die Legende zumindest in Teilen noch gibt, verdankt die Welt Seligmans altem Friseur.
Atemberaubende Landschaften und himmelstürmende Städte. Staubige Pferde und chromblitzende Autos. Selbstfindung, Neuanfang und allem voran – Freiheit, so weit das Auge reicht: Wohl keine andere Verbindung der Welt ist so mit Sehnsüchten überladen wie diese. "Dabei war das anfangs nur eine Straße von A nach B", weiß Delgadillo. Seine Eltern waren 1917 aus Mexiko nach Seligman gekommen. Am 11.11.1926 führten die USA ein Highway-System über Bundesstaaten hinweg ein, auf oft schon bestehenden Straßen. Der Strecke von Chicago nach Los Angeles fiel die Nummer 66 zu; sie führte direkt durch die neue Heimat der Delgadillos. Anders als ein Klischee besagt, verband sie nicht beide Ozeanküsten – das leistete der international weniger bekannte Lincoln Highway zwischen New York City und San Francisco. Route 66 verlief vom Lake Michigan im Nordosten nach Südkalifornien im Westen. Ursprünglich nannten sie deshalb viele auch "The Great Diagonal Way" (den großen diagonalen Weg).

Die U.S. Highway Association bewarb die 4000 Kilometer lange Strecke als "The Main Street of America" (die Hauptstraße Amerikas). Als erster Highway war sie 1938 durchgängig asphaltiert. Nach der Großen Depression in den 30er Jahren und den verheerenden Dust-Bowl-Sandstürmen im Landesinneren wurde Route 66 zum Bild für Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen: Hunderttausende reisten auf der Suche nach einem neuen Anfang auf ihr ins gelobte Land an der Westküste. Den Namen "Mother Road" (Mutter aller Straßen) verlieh ihr der Autor John Steinbeck. Im Zweiten Weltkrieg liefen zentrale Truppen- und Materialbewegungen über die Ader. Dann kamen Heimkehrer, Weltenbummler, Touristen.
1946 setzte der Songwriter Bobby Troup der Straße mit dem Lied "(Get Your Kicks on) Route 66" ein Denkmal, an dem sich so unterschiedliche Künstler wie Nat King Cole, Diana Krall, die Rolling Stones und Depeche Mode abarbeiten sollten. Die TV-Sendung "Route 66" und ihr Chevrolet Corvette Cabrio zementierten in den 60ern das Bild als Paradestrecke amerikanischer Autokultur.
Angel Delgadillos Vater war als Eisenbahnarbeiter nach Seligman gekommen, die Gleise führen dort noch heute vorbei. Fünf Jahre nach seiner Ankunft hatte der Senior einen Poolsalon und Barbershop. Das Friseurhandwerk brachte er sich selbst bei, doch eins der neun Kinder sollte es richtig lernen: Die Lehre am Barber-College in Kalifornien war eine von zwei Reisen, die Angel Delgadillo in seinem Leben aus Seligman geführt haben. In der Barber Hall of Fame in Ohio und im Smithsonian Museum of American History in der Hauptstadt ist er nie gewesen. Beide haben seine Geschichte in ihre Ausstellung integriert.
Den Friseurstuhl, den der Vater 1926 erwarb, hat er heute noch, samt der Rechnung über 194 Dollar. Aber es sah lang so aus, als würde der Kundenstrom versiegen: In den 70er Jahren umgingen neue, größere Highways mehr und mehr kleine Gemeinden an der alten Route 66. 1978 traf es auch Seligman: "Am 22. September um 14.30 Uhr sah ich diesen Ort sterben", erinnert sich Delgadillo. "Der ganze Verkehr floss zur I-40." Das Dorf hatte vom Durchgangsverkehr gelebt, von Hotels, Tankstellen, Gastronomie. "Jetzt folgte ein sehr langer Niedergang", sagt Delgadillo.

1985 stellte die U.S. Highway Association Route 66 insgesamt außer Dienst und informierte die Welt vom Ende eines Mythos. Gut ein Jahr später beschloss Delgadillo zu handeln: "Ich hatte schon Vorschläge gemacht, wie man die Wirtschaft zurückbringen könnte, auch dem Verkehrsministerium von Arizona. Aber niemand hat auf mich gehört. Also haben wir selbst gehandelt." Wir, das waren Delgadillo und 14 Vertreter aus anderen früheren Route-66-Gemeinden. Am 18. Februar 1987 trafen sie sich in Seligman zur Gründung der Historic Route 66 Association of Arizona; Delgadillo wurde ihr Präsident. Und tatsächlich: Im November desselben Jahres erklärte Arizona den Streckenabschnitt von Seligman ins eine Stunde westliche gelegene Kingman zur "Historic Route 66" – ein Titel, mit dem sich nicht nur auf Schildern werben ließ. Zur dreitägigen Einweihung im April 1988 kamen mehr als 150 Oldtimerbesitzer und Songwriter Bobby Troup persönlich. Es gab eine Miss-Wahl und mehr Essensgäste, als die Sporthalle aufnehmen konnte. Noch im selben Jahr kehrten die Touristen zurück. "Es war fast, als hätten die Menschen auf uns gewartet", sagt Delgadillo.
Heute existieren in allen acht Staaten, durch die die alte Straße verläuft, Lobbygruppen zu ihrer Wiederbelebung. Mancherorts ist nicht einmal mehr Asphalt übrig. Es gibt einspurige Überreste, Schlaglochpassagen und Abschnitte, die über gesperrten Privatbesitz führen. Die Ablösung durch moderne Highways hat auch Vorteile: Wo sie offensteht, ist die schmale Straße oft leer, sie bietet berauschende Blicke über das Land. Hin und wieder heischen versponnen dekorierte Kneipen und Andenkenläden um Aufmerksamkeit: Troups berühmter Song wird von Spöttern längst als "Get your Kitsch on Route 66" veralbert. Doch die stumm in der Wüste rostenden Chromriesen vergangener Automobilpracht, die Cowboy-Memorabilia und 50er-Jahre-Motels machen den Charme dieser Strecke aus, so wie ihr traumverlorenes Zeitgefühl.
"Ich glaube, viele Menschen sind vom Tempo der modernen Welt überfordert", sagt Delgadillo. "Sie sehnen sich danach, einen Gang runterzuschalten, die einfachen Freuden des Lebens genießen zu können." Auch seine drei Pool-Tische sind längst einem Andenkenladen gewichen; das Dorf Seligman gehört zu den schrulligsten Städtchen entlang der Strecke. Delgadillos Frau Vilma ist 84, die Hauptarbeit übernehmen zwei der vier Kinder und ein Schwiegersohn. Doch den Barbershop, in dem alles begann, schließt Angel Delgadillo jeden Morgen persönlich auf. Er ist zu einer Pilgerstätte für Route-66-Fans geworden, hängt voller Fanpost, Nummernschilder und Visitenkarten. "Nach der Stilllegung hat sich die Regierung von Arizona nicht für uns interessiert", erinnert sich Delgadillo versonnen. "Heute schickt unser Dorf im Jahr eine Million Dollar Gewerbesteuer nach Phoenix." Der alte Mann lächelt: "Es ist unglaublich, was aus meiner kleinen Idee geworden ist. Die Menschen kommen aus allen Ländern der Erde, und sie sind so glücklich!"
(Badische Zeitung vom 14.11.2016 )

Route 66 vielen auch als die Mutter aller Straßen bekannt.
Kicks und Kitsch auf der Route 66
Amerikas Hauptstraße ist 90 Jahre alt geworden, Angel Delgadillo lebt genauso lange dort – und engagiert sich für deren Erhalt.

"Ich habe die Völkerwanderung gesehen, die John Steinbeck in ,Früchte des Zorns’ beschreibt", sagt Angel Delgadillo und lächelt durch sein zerfurchtes Gesicht. "Eine Viertelmillion Menschen kamen über die Straße vor unserem Haus. Dann die Soldaten nach dem Krieg – alle durch dieses Dorf." Die 500-Seelengemeinde Seligman liegt im staubigen Nirgendwo des US-Bundesstaats Arizona, der 89-Jährige hat sie in seinem Leben nur zweimal verlassen. Dennoch ist Delgadillo ein Geschichtsbuch auf Beinen. "Ich wurde an der alten Route 66 geboren", sagt er und blickt auf den Asphalt vor dem Fenster seines Geschäfts. Die legendäre Mother Road ist nur wenige Monate älter als er, sie wurde im November vor 90 Jahren begründet. Dass es die Legende zumindest in Teilen noch gibt, verdankt die Welt Seligmans altem Friseur.
Atemberaubende Landschaften und himmelstürmende Städte. Staubige Pferde und chromblitzende Autos. Selbstfindung, Neuanfang und allem voran – Freiheit, so weit das Auge reicht: Wohl keine andere Verbindung der Welt ist so mit Sehnsüchten überladen wie diese. "Dabei war das anfangs nur eine Straße von A nach B", weiß Delgadillo. Seine Eltern waren 1917 aus Mexiko nach Seligman gekommen. Am 11.11.1926 führten die USA ein Highway-System über Bundesstaaten hinweg ein, auf oft schon bestehenden Straßen. Der Strecke von Chicago nach Los Angeles fiel die Nummer 66 zu; sie führte direkt durch die neue Heimat der Delgadillos. Anders als ein Klischee besagt, verband sie nicht beide Ozeanküsten – das leistete der international weniger bekannte Lincoln Highway zwischen New York City und San Francisco. Route 66 verlief vom Lake Michigan im Nordosten nach Südkalifornien im Westen. Ursprünglich nannten sie deshalb viele auch "The Great Diagonal Way" (den großen diagonalen Weg).

Die U.S. Highway Association bewarb die 4000 Kilometer lange Strecke als "The Main Street of America" (die Hauptstraße Amerikas). Als erster Highway war sie 1938 durchgängig asphaltiert. Nach der Großen Depression in den 30er Jahren und den verheerenden Dust-Bowl-Sandstürmen im Landesinneren wurde Route 66 zum Bild für Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen: Hunderttausende reisten auf der Suche nach einem neuen Anfang auf ihr ins gelobte Land an der Westküste. Den Namen "Mother Road" (Mutter aller Straßen) verlieh ihr der Autor John Steinbeck. Im Zweiten Weltkrieg liefen zentrale Truppen- und Materialbewegungen über die Ader. Dann kamen Heimkehrer, Weltenbummler, Touristen.
1946 setzte der Songwriter Bobby Troup der Straße mit dem Lied "(Get Your Kicks on) Route 66" ein Denkmal, an dem sich so unterschiedliche Künstler wie Nat King Cole, Diana Krall, die Rolling Stones und Depeche Mode abarbeiten sollten. Die TV-Sendung "Route 66" und ihr Chevrolet Corvette Cabrio zementierten in den 60ern das Bild als Paradestrecke amerikanischer Autokultur.
Angel Delgadillos Vater war als Eisenbahnarbeiter nach Seligman gekommen, die Gleise führen dort noch heute vorbei. Fünf Jahre nach seiner Ankunft hatte der Senior einen Poolsalon und Barbershop. Das Friseurhandwerk brachte er sich selbst bei, doch eins der neun Kinder sollte es richtig lernen: Die Lehre am Barber-College in Kalifornien war eine von zwei Reisen, die Angel Delgadillo in seinem Leben aus Seligman geführt haben. In der Barber Hall of Fame in Ohio und im Smithsonian Museum of American History in der Hauptstadt ist er nie gewesen. Beide haben seine Geschichte in ihre Ausstellung integriert.
Den Friseurstuhl, den der Vater 1926 erwarb, hat er heute noch, samt der Rechnung über 194 Dollar. Aber es sah lang so aus, als würde der Kundenstrom versiegen: In den 70er Jahren umgingen neue, größere Highways mehr und mehr kleine Gemeinden an der alten Route 66. 1978 traf es auch Seligman: "Am 22. September um 14.30 Uhr sah ich diesen Ort sterben", erinnert sich Delgadillo. "Der ganze Verkehr floss zur I-40." Das Dorf hatte vom Durchgangsverkehr gelebt, von Hotels, Tankstellen, Gastronomie. "Jetzt folgte ein sehr langer Niedergang", sagt Delgadillo.

1985 stellte die U.S. Highway Association Route 66 insgesamt außer Dienst und informierte die Welt vom Ende eines Mythos. Gut ein Jahr später beschloss Delgadillo zu handeln: "Ich hatte schon Vorschläge gemacht, wie man die Wirtschaft zurückbringen könnte, auch dem Verkehrsministerium von Arizona. Aber niemand hat auf mich gehört. Also haben wir selbst gehandelt." Wir, das waren Delgadillo und 14 Vertreter aus anderen früheren Route-66-Gemeinden. Am 18. Februar 1987 trafen sie sich in Seligman zur Gründung der Historic Route 66 Association of Arizona; Delgadillo wurde ihr Präsident. Und tatsächlich: Im November desselben Jahres erklärte Arizona den Streckenabschnitt von Seligman ins eine Stunde westliche gelegene Kingman zur "Historic Route 66" – ein Titel, mit dem sich nicht nur auf Schildern werben ließ. Zur dreitägigen Einweihung im April 1988 kamen mehr als 150 Oldtimerbesitzer und Songwriter Bobby Troup persönlich. Es gab eine Miss-Wahl und mehr Essensgäste, als die Sporthalle aufnehmen konnte. Noch im selben Jahr kehrten die Touristen zurück. "Es war fast, als hätten die Menschen auf uns gewartet", sagt Delgadillo.
Heute existieren in allen acht Staaten, durch die die alte Straße verläuft, Lobbygruppen zu ihrer Wiederbelebung. Mancherorts ist nicht einmal mehr Asphalt übrig. Es gibt einspurige Überreste, Schlaglochpassagen und Abschnitte, die über gesperrten Privatbesitz führen. Die Ablösung durch moderne Highways hat auch Vorteile: Wo sie offensteht, ist die schmale Straße oft leer, sie bietet berauschende Blicke über das Land. Hin und wieder heischen versponnen dekorierte Kneipen und Andenkenläden um Aufmerksamkeit: Troups berühmter Song wird von Spöttern längst als "Get your Kitsch on Route 66" veralbert. Doch die stumm in der Wüste rostenden Chromriesen vergangener Automobilpracht, die Cowboy-Memorabilia und 50er-Jahre-Motels machen den Charme dieser Strecke aus, so wie ihr traumverlorenes Zeitgefühl.
"Ich glaube, viele Menschen sind vom Tempo der modernen Welt überfordert", sagt Delgadillo. "Sie sehnen sich danach, einen Gang runterzuschalten, die einfachen Freuden des Lebens genießen zu können." Auch seine drei Pool-Tische sind längst einem Andenkenladen gewichen; das Dorf Seligman gehört zu den schrulligsten Städtchen entlang der Strecke. Delgadillos Frau Vilma ist 84, die Hauptarbeit übernehmen zwei der vier Kinder und ein Schwiegersohn. Doch den Barbershop, in dem alles begann, schließt Angel Delgadillo jeden Morgen persönlich auf. Er ist zu einer Pilgerstätte für Route-66-Fans geworden, hängt voller Fanpost, Nummernschilder und Visitenkarten. "Nach der Stilllegung hat sich die Regierung von Arizona nicht für uns interessiert", erinnert sich Delgadillo versonnen. "Heute schickt unser Dorf im Jahr eine Million Dollar Gewerbesteuer nach Phoenix." Der alte Mann lächelt: "Es ist unglaublich, was aus meiner kleinen Idee geworden ist. Die Menschen kommen aus allen Ländern der Erde, und sie sind so glücklich!"
(Badische Zeitung vom 14.11.2016 )

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